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Rohr- oder Reetdächer in der Architektur Mecklenburg-Vorpommerns

Eine moderne Tradition

© Akademie der Künste, Berlin

Text: Olaf Bartels, Architekturjournalist

Dass Dächer, insbesondere ihre Deckung mit Rohr (oder Reet), für die historische wie für die aktuelle Baukultur in Mecklenburg-Vorpommern eine wichtige Rolle spielen, liegt auch an der Bedeutung, die Dächer generell für die Architektur und die Kulturlandschaften der Region haben.

Abb. 1: Haus Pingel in Kloster auf Hiddensee, 1924 (ursprüngliche Fassung). Architekt: Max Taut, 1924 | © Akademie der Künste, Berlin, Max-Taut-Fotosammlung Nr. 48 F.1

Gottfried Sempers Theorie über die Elemente der Architektur

Der deutsche Architekt und Architekturtheoretiker Gottfried Semper nennt in seinem 1851 erschienen Traktat „Die vier Elemente der Baukunst“ neben der Feuerstelle, dem Unterbau und der Einfriedung, das Dach als eines der wichtigsten Komponenten eines Hauses. Semper wird in späteren Schriften seine „Bekleidungstheorie“ entwickeln und in seiner bekanntesten Theorie „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten“ das Textile in der Architektur hervorheben, was ihn in die Lage versetzt, die Fassadenoberfläche und ihre Ornamentik getrennt von ihrer Konstruktion zu betrachten. Für die Interpretation der Fassade als wichtiger Bedeutungsträger in der Architektur war das ein wichtiger, ein revolutionärer Schritt. Warum Semper in seiner Theorie über die wichtigsten Elemente der Baukunst dem Dach aber den Vorzug gegenüber der Wand zumindest konstruktiv gibt, erschließt sich zunächst nicht.

Abb 2: Feriendomizil Heiderose, 1957, Architektur: Architektenkollektiv Günter Börner (Städtebau), Rudolf Schwanz, Renate Betzel (Hochbau), Kurt Schewe  (Innengestaltung) | © Olaf Bartels

© Olaf Bartels

Seine norddeutsche Herkunft kann aber Hinweise geben. Gottfried Semper wurde 1803 in Hamburg geboren, hielt sich hier aber nur wenige Jahre auf. Seine Familie lebte ab 1806 im benachbarten, damals dänisch regierten Altona in Holstein. Auch wenn Semper viel reiste, schon früh bei wichtigen deutschstämmigen Architekten in Paris lernte und auch schon früh bahnbrechend die antike griechische Architektur studierte, haben die in Norddeutschland üblichen Bauweisen einen sehr prägenden Eindruck hinterlassen: Die hohen, großen, meist aus Schilfrohr gebildeten Dächer der Bauernhäuser und Scheunen, die mit weitem Überstand fast bis an den Boden reichen, bestimmten zu Sempers Zeiten das Bild der norddeutschen Kulturlandschaft. Mit 31 Lebensjahren übernahm Gottfried Semper bereits eine Professur in Dresden, verbrachte lange Zeit in London im Exil, wo seine wesentlichen theoretischen Schriften entstanden und konnte dann 1855 eine Professur in Zürich antreten. Seiner norddeutschen Heimat blieb Semper dennoch verbunden. Er unterstützte Hamburg beratend beim Wiederaufbau nach dem großen Stadtbrand 1842 und trug 1843 einen wichtigen Beitrag zum Umbau und zur Erweiterung des Schweriner Schlosses bei. Dabei war es ihm gelungen, die Erweiterung des Schlosses mit großem Respekt vor der Bauart der schon bestehenden Teile nach einem, wie er es nannte, „nordischen Bauprinzip“ zu entwerfen, dass „in der malerischen sich aus dem inneren Bedürfnis ergebenden Gruppierung der Baumassen“ bestand. In seinem Entwurf spielte ein großer, akzentsetzender Turm mit einem hohen Dach eine wesentliche Rolle, der dann auch in die ausgeführten Planungen einbezogen wurde.

Diese Episode zeigt, dass Semper beides geläufig war: In der akademischen Debatte um die „Stilfindung“ in der Architektur, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt wurde, einen lokalen, also ortsbezogenen Beitrag zu leisten und sich ebenso – zumindest theoretisch – mit den grundlegenden Elementen der Alltagsarchitektur zu befassen. Nach Sempers Definition: mit der Feuerstelle, dem Gebäudeunterbau, der Einfriedung und eben mit dem Dach.

Dächer waren in Mecklenburg und Pommern, wie in ganz Norddeutschland während des 19. Jahrhunderts in der Tat ein wesentliches Element der Alltagsarchitektur, die in der Regel und in langer handwerklicher Tradition als Holzständerwerk errichtet wurden. Als Füllmaterial der Holzfachwerke diente lange Zeit eine Mischung aus pflanzlichem Gewebe (Astwerk und Stroh) sowie Lehm bis im Mittelalter Backsteine aus gebranntem Ton entwickelt wurden. Backsteine eigneten sich als „Einfriedung“ oder Fassade besser als Lehm, weil sie mit ihrer gebrannten Oberfläche dem rauen Klima in Norddeutschland besser stand-halten konnten. Gebrannter Ton als Dachziegel löste nach und nach die Reetdeckung ab. Für die Emanzipation der Wand zu einem prägenden Element der Architektur hat diese technische Entwicklung wesentlich beigetragen, war doch das damals schon übliche Natursteinmauerwerk aufwändig und teuer und deshalb auch nicht alltäglich.

Vor diesem Hintergrund erscheint Gottfried Sempers Einschätzung, dem Dach eine hohe architektonische Bedeutung zu geben, plausibel, zumal die hohen rohrgedeckten Dächer nicht nur die Dörfer, sondern auch die Landschaften im Norden Europas prägten. Natürliche Baumaterialien wie Holz, Stroh, Rohr oder Reet, aber auch Lehm und Ton, auch als Ziegel gebrannt, waren selbst Teil der Landschaft.

Foto: St. Melchior
Scheunentrio Prerow, Landesbaupreis M-V 2014 | Foto: St. Melchior
Kleiner Hof, Rügen | Foto: M. Wirkus
Kleiner Hof, Rügen | Foto: M. Wirkus
reeThaus, Landesbaupreis 2019 Finalist | Foto: Stephan Müller
"ree T haus", Prerow | Foto: Stefan Melchior

Das Rohrdach in der modernen Architektur

Dass das Rohrdach auch in der Modernen Architektur Verwendung finden kann, zeigte der Architekt Max Taut an dem (heute leider sehr veränderten) Haus Pingel, das er 1924 auf Hiddensee baute. Dort blieb die Rohrdeckung auch in den 1950er Jahren beispiels-weise im Feriendomizil „Heiderose“ (1957) der ehemaligen IFA-Werke aus Suhl oder am ehemaligen Ferienhotel „Seeblick“ der Volkswerft Stralsund (1978) in Vitte präsent. Die Verwendung dieser Materialien kann noch heute als ortstypisch gelten und sie animiert zeitgenössische Architektinnen und Architekten in Mecklenburg-Vorpommern nicht nur zur Nostalgie und zum konservativen Bauen, sondern auch zu einer innovativen und gleichzeitig betont regionalorientierten Architektur.

So hat der Architekt Norbert Möhring das Schilfrohr zu einem prägenden Element seiner vielfach ausgezeichneten Einfamilien- und Ferienhäuser gemacht, die er vornehmlich auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst gebaut hat. Das Reet krönt hier hohe, oft schwer wirkende Dächer, die auch mal auf komplett verglasten Baukörpern ruhen. Seine Dächer sind verschiedentlich durch großzügig scharf eingeschnittene und durch Blech eingefasste Gauben bestimmt. Manchmal prägt das Reet als einheitliche Dachdeckung und Wandverkleidung das ganze Gebäude. Schwarze Holzgiebel oder Corteenstahlanbauten setzen lediglich Akzente.

Abb. 3: Wohnhaus in Prerow auf dem Darß. Architekt: Norbert Möhring, 2013 | ©Stefan Melchior

Foto: St. Melchior

Kleiner Hof auf Rügen

Auch Susanne Brorson hat die Reetdeckung als ein regionaltypisches und nachhaltiges Baumaterial für die Dachdeckung und Wandverkleidung (wieder)entdeckt. Sie setzt dabei auf historische Beispiele aus der gesamten Ostseeregion. Ein Beispiel dafür ist der „Kleine Hof“ auf Rügen, der auf der Basis einer Ansammlung von DDR-Einfamilientypenhäusern EW58, die entgegen der eigentlichen Norm nicht mit Ziegeln, sondern mit nahe am Bodden wachsenden Rohr gedeckt wurden. Mit kleinen Reparaturen an den Dächern sowie kleinen Zutaten wie Wandverkleidungen aus Rohr oder Seetang und akzentuierten Zubauten wurde dieser Bestand umgenutzt und architektonisch neu definiert. Dafür bekam das Projekt im Rahmen des BDA-Preises-MV 2021 eine Anerkennung.

Abb. 4: Kleiner Hof auf Rügen, Umnutzung und Erweiterung von DDR-Typenwohnhäusern EW58, Architektur: Studio Susanne Brorson, 2021 | © Maja Wirkus

Kleiner Hof, Rügen | Foto: M. Wirkus

Das Reet oder das Rohr lebt wieder, könnte man sagen, auch wenn diese Metapher nicht unbedingt angebracht ist, handelt es sich hier doch definitiv nicht um lebendes Baumaterial. Zumindest aber wird ein wesentliches Element der regionalen Architektur damit wieder aktiviert und damit belebt.

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