Seine norddeutsche Herkunft kann aber Hinweise geben. Gottfried Semper wurde 1803 in Hamburg geboren, hielt sich hier aber nur wenige Jahre auf. Seine Familie lebte ab 1806 im benachbarten, damals dänisch regierten Altona in Holstein. Auch wenn Semper viel reiste, schon früh bei wichtigen deutschstämmigen Architekten in Paris lernte und auch schon früh bahnbrechend die antike griechische Architektur studierte, haben die in Norddeutschland üblichen Bauweisen einen sehr prägenden Eindruck hinterlassen: Die hohen, großen, meist aus Schilfrohr gebildeten Dächer der Bauernhäuser und Scheunen, die mit weitem Überstand fast bis an den Boden reichen, bestimmten zu Sempers Zeiten das Bild der norddeutschen Kulturlandschaft. Mit 31 Lebensjahren übernahm Gottfried Semper bereits eine Professur in Dresden, verbrachte lange Zeit in London im Exil, wo seine wesentlichen theoretischen Schriften entstanden und konnte dann 1855 eine Professur in Zürich antreten. Seiner norddeutschen Heimat blieb Semper dennoch verbunden. Er unterstützte Hamburg beratend beim Wiederaufbau nach dem großen Stadtbrand 1842 und trug 1843 einen wichtigen Beitrag zum Umbau und zur Erweiterung des Schweriner Schlosses bei. Dabei war es ihm gelungen, die Erweiterung des Schlosses mit großem Respekt vor der Bauart der schon bestehenden Teile nach einem, wie er es nannte, „nordischen Bauprinzip“ zu entwerfen, dass „in der malerischen sich aus dem inneren Bedürfnis ergebenden Gruppierung der Baumassen“ bestand. In seinem Entwurf spielte ein großer, akzentsetzender Turm mit einem hohen Dach eine wesentliche Rolle, der dann auch in die ausgeführten Planungen einbezogen wurde.
Diese Episode zeigt, dass Semper beides geläufig war: In der akademischen Debatte um die „Stilfindung“ in der Architektur, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt wurde, einen lokalen, also ortsbezogenen Beitrag zu leisten und sich ebenso – zumindest theoretisch – mit den grundlegenden Elementen der Alltagsarchitektur zu befassen. Nach Sempers Definition: mit der Feuerstelle, dem Gebäudeunterbau, der Einfriedung und eben mit dem Dach.
Dächer waren in Mecklenburg und Pommern, wie in ganz Norddeutschland während des 19. Jahrhunderts in der Tat ein wesentliches Element der Alltagsarchitektur, die in der Regel und in langer handwerklicher Tradition als Holzständerwerk errichtet wurden. Als Füllmaterial der Holzfachwerke diente lange Zeit eine Mischung aus pflanzlichem Gewebe (Astwerk und Stroh) sowie Lehm bis im Mittelalter Backsteine aus gebranntem Ton entwickelt wurden. Backsteine eigneten sich als „Einfriedung“ oder Fassade besser als Lehm, weil sie mit ihrer gebrannten Oberfläche dem rauen Klima in Norddeutschland besser stand-halten konnten. Gebrannter Ton als Dachziegel löste nach und nach die Reetdeckung ab. Für die Emanzipation der Wand zu einem prägenden Element der Architektur hat diese technische Entwicklung wesentlich beigetragen, war doch das damals schon übliche Natursteinmauerwerk aufwändig und teuer und deshalb auch nicht alltäglich.
Vor diesem Hintergrund erscheint Gottfried Sempers Einschätzung, dem Dach eine hohe architektonische Bedeutung zu geben, plausibel, zumal die hohen rohrgedeckten Dächer nicht nur die Dörfer, sondern auch die Landschaften im Norden Europas prägten. Natürliche Baumaterialien wie Holz, Stroh, Rohr oder Reet, aber auch Lehm und Ton, auch als Ziegel gebrannt, waren selbst Teil der Landschaft.