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Ulrich Müther

Filigrane Beton­schalen an der Ostseeküste

Foto: W. Dechau

Backsteingotik und Schalenbau

Text: Prof. Matthias Ludwig, Müther-Archiv, Hochschule Wismar

Das Land Mecklenburg-Vorpommern wird vor allem durch seine Lage an der Ostsee und seine charakteristische Landschaft geprägt: zwischen weiten Feldern und im Küstennebel heben sich monumentale Backsteinkirchen, Schlossanlagen und imposante Felsenformationen hervor – ganz so wie vom Maler Caspar David Friedrich einst festgehalten. Die agrarisch geprägte Region hat sich seit dem 19. Jahrhundert wenig verändert und auch 45 Jahre DDR, die architektonisch vor allem für ihre anonymen Wohnanlagen in industrieller Plattenbauweise bekannt ist, haben keine einschneidenden Veränderungen hinterlassen. Jedoch ist in dieser Zeit eine große Anzahl von ungewöhnlichen Betonschalenbauten entstanden, die nach der politischen Wende 1989 in Vergessenheit geraten waren und erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts „wiederentdeckt“ wurden.

Schalenbaumeister Ulrich Müther

Ihr Erfinder war der in Binz auf der Insel Rügen geborene Ingenieur (Abb.1) und Bauunternehmer Ulrich Müther (1934-2007). Damals wie heute war die Insel Rügen mit ihren langen Sandstränden, dichten Kiefernwäldern und den in traditioneller Bäderarchitektur gebauten Ortschaften eine der beliebtesten Urlaubsregionen in Deutschland. Das war mit ein Grund dafür, dass Müther dort, mitten im Sozialismus, seine u.a. für die touristische Infrastruktur genutzten Solitärbauten realisieren konnte. Ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden so zunächst auf der Insel Rügen und in Mecklenburg-Vorpommern, später dann in der ganzen DDR seine Betonschalenbauten, vor allem Gaststätten, Pavillons, Kirchen, Sportstätten und Veranstaltungshallen. Sie waren mit ihrer Eleganz und Modernität der Gegenentwurf zu den wenig inspirierten Plattenbauten, bildeten einen gelungenen Kontrast inmitten der großen Plattenbau-Wohngebiete und gaben ihnen eine individuelle Note. Die Schalenbauwerke wurden für die DDR auch zu einem wichtigen Exportartikel und so konnte Müther in späteren Jahren sogar im Ausland bauen[1].

[1] U.a. Zeiss Planetarien in Finnland, Kuwait, Libyen

Abb. 1: Ulrich Müther am 14.6.2000, bei Fernsehaufnahmen zum geplanten Abriss des »Ahornblatts« (die Arte-Sendung wurde ausgestrahlt am 1.7.2000)

 

Ulrich Müther, vor »Ahornblatt«
Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv

Die Kunst des Schalenbaus

In der Architektur waren Schalenformen bereits ab den 1920er Jahren verwendet, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum bevorzugten Bausystem für mittlere und große Gebäude geworden. Prägend waren dabei der Spanier Felix Candela (1910-1997) und der Schweizer Heinz Isler (1926-2009). Das Ingenieurstudium von Ulrich Müther fiel in die Aufbruchszeit des internationalen Betonschalenbaus und so hatte er sich während seiner Studienzeit intensiv mit dem Thema beschäftigt. Über Auslandsbeziehungen war er in Kontakt mit anderen Schalenbauern gekommen, ließ sich aber vor allem von Candela inspirieren, der als neue Formenvariante das hyperbolische Paraboloid in den Schalenbau eingebracht hatte. Da Müther bereits seit 1958, parallel zum Studium, technischer Leiter des elterlichen Bauunternehmens in Binz war, nutzte er die Gelegenheit, dort mit Versuchsschalen im kleinen Maßstab zu experimentieren. Insofern war es nur konsequent, dass er 1963 das Studium als Bauingenieur an der Technischen Hochschule Dresden mit einer Diplomarbeit über „Hyperbolische Paraboloidschalen“ abgeschlossen hat. Diese sogenannten Hyparschalen, kurz HP-Schalen[2], wurden zu Müthers Markenzeichen und mit dem Bau seiner Abschlussarbeit, einem Entwurf für die Überdachung eines Mehrzwecksaals für das Betriebsferienheim „Haus der Stahlwerker“ 1964 in Binz (abgerissen 2002), realisierte er den ersten Hyparschalenbau aus Stahlbeton in der DDR.

[2] HP-Schale = Schalentragwerk in der Form eines hyperbolischen Paraboloids und damit einer Sattelfläche, oft als Verbundbetonplatte aus Stahl und Beton ausgeführt. In der modernen Architektur häufig als Dachfläche eingesetzt.

Früher Ruhm und das Karriereende

1966 machte er dann mit dem Bau der Halle für die Ostseemesse in Rostock-Schutow von sich reden, die er mit seinem Baubetrieb (PGH Bau Binz) erstellte. Die Konstruktion mit zwei nur 7 cm dünnen HP-Schalen begeisterte Publikum und Politik (Abb. 2) und Müther erhielt in der Folge mehrere Aufträge für Kulturbauten und Gaststätten mit Hyparschalendächern. 1972 wurde sein Betrieb verstaatlicht und als Genossenschaft zum VEB Spezialbeton Rügen. Er konnte allerdings als Direktor den Betrieb weiterführen und hatte durch die Spezialisierung auf Betonarbeiten eine nahezu konkurrenzlose Sonderstellung in der DDR. Im streng reglementierten Ostdeutschland wurde es dadurch für Müther möglich in Zusammenarbeit mit Architekten, Ingenieuren und Baufachleuten die Bauten nicht nur zu entwerfen und zu konstruieren, sondern sie auch zusammen mit seinen Mitarbeitern zu errichten. Selbst nannte er sich ganz bescheiden „Landbaumeister aus Binz“, in der DDR waren seine Konstruktionen allerdings sehr bekannt und er realisierte im Laufe seiner Tätigkeit mehr als 70 teils wegweisende Betonschalenkonstruktionen, wobei die bekanntesten der „Teepott“ in Rostock-Warnemünde (1968) und der „Rettungsturm“ der Strandwache in Binz (1981) sein dürften (Abb. 3, 4). Nach der Wiedervereinigung wurde der Betrieb 1990 an Ulrich Müther zurückübertragen. Der Betonschalenbau spielte allerdings zu dieser Zeit keine Rolle mehr, auch weil die arbeitsintensiven Sonderkonstruktionen und der aufwendige Schalungsbau zu teuer waren. Es gelang Müther nicht, seine Firma in der neuen Situation zu etablieren, was 1999 zur Aufgabe des Unternehmens führte. Im Jahr 2007 verstarb Ulrich Müther in Binz.

Abb. 2: Messehalle Rostock-Schutow, 1966. Architekt: Erich Kaufmann, Ingenieur: Ulrich Müther (Foto: 4.9.2018)

Abb. 3: »Teepott«, Warnemünde, 1968. Architekten: Kaufmann, Pastor und Fleischhauer, Ingenieur: Ulrich Müther (Foto: August 1999)

Abb. 4: Rettungsstation in den Dünen am Strand von Binz. Wurde 1968 als Ferrozement-Schalenbau errichtet. Architekt: Dietrich Otto, Binz, Ingenieur: Ulrich Müther, Binz (Foto: 18.9.2018)

Messehalle Rostock-Schutow
Abb. 2, Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv
»Teepott«, Warnemünde
Abb. 3, Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv
Rettungsstation Binz, Architekt: Dietrich Otto, Binz, Ingenieur: Ulrich Müther | Foto: Wilfried Dechau/ Müther-Archiv
»Teepott«, Warnemünde
Abb. 3, Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv

Müthers Erbe nach der politischen Wende

Viele seiner Bauten sind nach der Wiedervereinigung umgenutzt worden oder stehen bis heute leer und sind dem Vandalismus preisgegeben, manche wurden unsachgemäß saniert, einige sogar abgerissen. Ironischerweise führte aber im Jahr 2000 gerade ein solcher Abriss, nämlich der des seit 1995 unter Denkmalschutz stehenden sogenannten „Ahornblattes“ in Berlin (Abb. 5), das 1973 als Gaststätte und gesellschaftliches Zentrum für das Wohngebiet Fischerinsel gebaut worden war, zu einer breiten Diskussion über die Erhaltung von Müther-Bauwerken. Angeregt dadurch hatte Ulrich Müther begonnen, alle noch erhaltenen Unterlagen, Modelle und Pläne zu ordnen und diese schließlich 2006 als "Müther-Archiv" an die Hochschule Wismar zu übergeben. Seit das Archiv seine Arbeit aufgenommen hat, konnte es öffentlichkeitswirksam zahlreiche Ausstellungen und Publikationen auf den Weg bringen.

Abb. 5: »Ahornblatt« Berlin, 21.6.2000, kurz vor dem Abriss

»Ahornblatt« Berlin,
Abb. 5, Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv

Aktuelle Entwicklungen

Auch Dank dieser Vorarbeit wurde 2016/17 auf der Insel Rügen, seiner Heimat, der Ulrich Müther immer treu geblieben ist, ein Projekt mit Modellcharakter für zwei seiner Bauten durchgeführt: die bautechnische Untersuchung und Sanierung des Rettungsturms in Binz (Abb. 6) und der Kurmuschel in Sassnitz (Abb. 7,8). Diese beiden Gebäude wurden schon zuvor als wichtige Zeugnisse der Baugeschichte anerkannt und unter Denkmalschutz gestellt, die Kurmuschel allerdings erst im Jahr 2014 aufgrund der oben genannten Aktivitäten. Zunächst erfolgte die Voruntersuchung und Zustandserfassung, auf deren Basis dann ein Maßnahmenkatalog für eine sach- und denkmalgerechte Sanierung erstellt wurde. Die Gesamtkosten trug die Wüstenrot Stiftung[3] mit Sitz in Ludwigsburg, die auch die verantwortliche Bauherrschaft übernahm. Dieses Modellprojekt war ein großer Schritt auf dem Weg, den Schalenbauwerken von Ulrich Müther die ihnen zustehende Wertschätzung zu verschaffen. Inzwischen werden einige weitere Bauten ebenfalls mit großem Engagement renoviert, nämlich die Stadthalle in Neubrandenburg (Abb. 9), die Messehalle in Rostock-Schutow (Abb. 10). und die Messehalle in Magdeburg (Abb. 11). Verbunden mit diesen Projekten ist die Hoffnung, dass die Müther´schen Konstruktionen bald auch außerhalb von Fachkreisen als selbstverständlicher Bestandteil des architektonischen Kulturerbes geschätzt und mit der entsprechenden Sorgfalt erhalten werden.

[3] Vgl. Internetpräsenz Wüstenrotstiftung, www.wuestenrot-stiftung.de

Abb. 6: Rettungsstation in den Dünen am Strand von Binz. Wurde 1968 als Ferrozement-Schalenbau errichtet. Architekt: Dietrich Otto, Binz, Ingenieur: Ulrich Müther, Binz (Foto: 18.9.2018)

Abb. 7/8: Musikpavillon, Sassnitz, 1987. Architekten: Otto Patzelt, Dietmar Kuntzsch, Ingenieur: Ulrich Müther (Foto: 18.9.2018)

Abb. 9: Stadthalle Neubrandenburg, 1973. Architekt: Karl Kraus, Ingenieur: Ulrich Müther (Foto: 5.9.2018)

Abb. 10: Messehalle »Bauwesen und Erdöl«, Rostock-Schutow, erbaut 1966, seit 2003 unter Denkmalschutz

Abb. 11: Ausstellungs- und Veranstaltungshalle in Magdeburg, erbaut 1969, seit 1998 unter Denkmalschutz. Beteiligte: Horst Freytag, Fritz Retzloff, Prüfstatik: Günther Ackermann

 

Stadthalle Neubrandenburg
Abb. 9, Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv
Veranstaltungshalle in Magdeburg,
Abb.11: Nutzungsrechte: Müther-Archiv
Messehalle »Bauwesen und Erdöl«, Rostock-Schutow
Abb.10: Nutzungsrechte: Müther-Archiv
Musikpavillon, Sassnitz
Abb. 8, Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv
Musikpavillon, Sassnitz
Abb. 7, Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv
Abb. 6, Foto: Wilfried Dechau/Müther-Archiv

Literatur:

Matthias Beckh, Juan Ignacio del Cueto Ruiz-Funes, Matthias Ludwig, Andreas Schätzke und Rainer Schützeichel (Hrsg.), Candela Isler Müther, Positions on Shell Construction. Positionen zum Schalenbau. Basel, 2021

Die Rettungstürme 1 und 2, Publikationen des Müther-Archivs Heft 1, Wismar 2014

Rahel Lämmler, Michael Wagner, Ulrich Müther Schalenbauten in Mecklenburg-Vorpommern, Niggli AG, Sulgen/Zürich, 2010

Wilfried Dechau (Hrsg.), Kühne Solitäre. Ulrich Müther – Schalenbaumeister der DDR, DVA, Stuttgart, 2000 (vergriffen)

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